Ein fachlicher Standpunkt zum Artenschutz, welcher nicht unbedingt mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen muss. Die folgenden Darlegungen des Verfassers regen jedoch zur Diskussion und zum Vergleich der Situation in Thüringen an. 

Artenschutz
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Je mehr Arten „unter Schutz“ gestellt wurden, desto länger wurden auch die „Roten Listen“. Verwundert reiben wir uns die Augen: Das kann doch nicht wahr sein! Das darf nicht sein! Wozu nahmen wir die umfangreichen Einschränkungen, die uns der Artenschutz aufgezwungen hat, all die Jahre hin, wenn sie doch nahezu nichts genutzt haben?

Warum wurden große Naturschutzverwaltungen aufgebaut, mit qualifizierten Fachkräften besetzt und mit der Verfügung über millionenschwere Artenhilfsprogramme und zahlreiche andere Schutzmaßnahmen ausgestattet, wenn ihr Einsatz keine nachhaltige Verbesserung gebracht hat? Was lief, was läuft da falsch im deutschen Artenschutz? Mir drängte sich bei der genaueren Betrachtung der letzten „Roten Listen“ der gefährdeten Tiere und Pflanzen in Bayern gar die ketzerische Frage auf: Wie würde unsere Natur ohne die Artenschutzgesetze und -verordnungen, die seit der großen Wende im Naturschutz, dem ‚Europäischen Naturschutzjahr’ von 1970, über uns gekommen sind, heute aussehen? Hätten die alten, die einfachen und nachvollziehbaren Bestimmungen ausgereicht? In welchem Verhältnis stehen Aufwand und Ergebnis wirklich zueinander?

Mit diesen Gedanken im Kopf, vertiefte ich mich vor über einem Jahrzehnt in die „Roten Listen“ für Bayern. Sie beeindrucken mit rund 16.000 „erfasster Tierarten“ und 1,3 Millionen Nachweisen von 163.000 Fundorten. Das ist eine ganze Menge, denkt man sogleich. Doch ein genauerer Blick ernüchtert. Der Durchschnitt ergibt äußerst magere 80 Einzelnachweise pro Tierart für das über 70.000 Quadratkilometer große Land oder nur noch gut einen Nachweis auf 1.000 Quadratkilometer. Ist also das Ergebnis, dass rund die Hälfte, 51 Prozent, aller in Bayern vorkommenden Tierarten in einer der Gefährdungskategorien zu finden ist, einfach den viel zu kleinen Stichproben und der weitaus zu lückenhaften Untersuchung zuzuschreiben? Ich meine nicht und schließe mich den sehr vorsichtigen Schlussfolgerungen der Bearbeiter und ihren Vergleichen mit den früheren „Roten Listen“ an. Der hohe Grad der Gefährdung ist gegeben. Er liegt sogar aller Wahrscheinlichkeit noch beträchtlich höher, weil für viele der als (noch) häufig (genug) eingestuften Arten tatsächlich sehr starke Rückgänge seit den letzten Erhebungen zu den „Roten Listen“ Anfang der 1990er Jahre zu verzeichnen waren.

Artenschutz
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Die Stärke der Abnahmen beunruhigt dabei viel mehr als der gegenwärtig erreichte Gefährdungsgrad. Feldlerchen sind in Bayern so selten geworden, dass man sie am besten am Münchner Großflughafen sucht! Rebhuhn und Kiebitz verabschieden sich; der Wiedehopf ist so gut wie verschwunden. Der als ausgesprochen robust erachtete und nicht unter den gefährdeten Arten eingestufte, sondern lediglich in der‚ Vorwarnliste’ geführte Braune Bär (Arctia caja), ein Nachtfalter aus der Familie der Bärenspinner, nahm seit den 1970er Jahren nach Ergebnissen von Lichtfallenuntersuchungen auf weniger als ein Zehntel der früheren Häufigkeit ab.

Für die Erhaltung der Ackerwildkräuter, also den einst so verhassten Unkräutern, erhält die Landwirtschaft seit Jahren Millionen Euros Ausgleichszahlungen. Dennoch überleben diese Pflanzen am ehesten noch innerhalb der Orte, zumal in den Städten.

Über Rückgänge und Artenverluste wird landauf landab geklagt – kaum jedoch in den Städten. In diesen nahm die Vielfalt zu; je größer die Stadt, umso artenreicher ist sie geworden! In Berlin kommen Angehörige von rund zwei Drittel aller in ganz Deutschland regelmäßig brütenden Vogelarten vor. Um 15 bis 30 Prozent liegt der Artenreichtum der Städte über dem Landesdurchschnitt, der ihrer Flächengröße entsprechen würde.

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Inseln der Artenvielfalt haben sich also ausgerechnet dort entwickelt, wo dies der Artenschutz am wenigsten erwartet hatte. Die „Unwirtlichkeit der Städte“ mochte früher aus soziologischer Sicht eine passende Charakterisierung gewesen sein. Heute ist die „Unwirtlichkeit des Landes“ die treffende Kurzbezeichnung für den Schwund der Artenvielfalt. Die Schutzmaßnahmen sollten aber gerade auf dem Land, ‚draußen in der Natur’ greifen. In den Städten beschränkte sich der Schutz weitgehend auf die Erhaltung alter Bäume („Achtung: Fledermausbaum“) und das Aufhängen von Nistkästen („Singvogelschutz“). Dennoch finden sich manch rare Arte kaum weniger selten in den Städten als in Naturschutzgebieten. In der Stadt werden sie eher zum großen Hemmnis für Bauund Siedlungstätigkeit. Mit dem Vorkommen von „Rote Liste Arten“ werden Veränderungen blockiert oder unmöglich gemacht, was dem Naturschutz nicht gerade Freunde bringt. Der Artenschutz ist hier zu einem Behinderungs- und Verhinderungsinstrument umfunktioniert worden!

Besonders stark behindert werden Lehre und Natur-Forschung, weil die Schutzbestimmungen die Nutzung von Arten für den für Schul- und Hochschulunterricht in der Praxis fast unmöglich machen. Längst wäre ein Konrad Lorenz nicht mehr möglich, weil der Artenschutz das Interesse an der Tierhaltung bei den Jugendlichen im Keim erstickt. Nestjunge Dohlen dürfen, wie viele der Tiere, deren Verhalten der junge Lorenz beobachtete, nicht mehr privat aufgezogen werden. Sogar das Mitverfolgen der Entwicklung von Frosch- oder Molchlaich über die fischartigen Kaulquappen zu den fertigen Landtieren oder die Umwandlung der Raupen des Tagpfauenauges zu Puppe und Schmetterling – mit dem Wunder des Schlüpfens aus der Puppenhülle – fallen unter das Artenschutztabu. Die genauere Beschäftigung mit der Natur bedarf der Ausnahmegenehmigung! An das früher übliche und für viele Biologen, die sich dann auch mit der Natur beschäftigten und nicht nur im Labor wesenlose Erbsubstanz aus irgendwelchen Proben analysieren, in ihrer Kindheit und Jugend prägende Sammeln von Käfern, Schmetterlingen oder anderen Insekten ist gar nicht mehr zu denken.

Die zum Sammeln (vom Staat) bestimmten Forschungsmuseen tun sich ungleich leichter, irgendwo in fernen, „unterentwickelten“ Ländern zu forschen als die Sammlungen als Dokumentation für Entwicklungen und Veränderungen im eigenen Land weiter zu führen. Von den 1,3 Millionen „Daten“ der bayerischen „Roten Listen“ gibt es kaum irgendwelche Belege in staatlichen Sammlungen. Die Angaben sind damit nicht nachprüfbar. Kurz und schlecht: Der Artenschutz kam zur größten, aber gänzlich unpassenden Wirkung in Bereichen, die mit dem Schutz der Arten direkt gar nichts zu tun haben. Indirekt entzieht er sich selbst die Basis, weil er das Interesse an Tieren und Pflanzen zu sehr beschränkt.

Unwirksam blieb der Schutz jedoch dort, wo er eigentlich gewirkt haben sollte, nämlich draußen auf dem freien Land, in Feld und Flur, Wald und Wasser. Dort haben die Nutzer das Sagen und der Schutz hat keine Chance. Die direkten und die indirekten Auswirkungen der Landwirtschaft verursachten etwa 70 bis 80 Prozent der Rückgänge bei Tieren und Pflanzen. Weitere 15 bis 20 Prozent stellen sich bei genauerer Betrachtung als Folgen von Maßnahmen des Umwelt- und Naturschutzes heraus. Eine solche Erkenntnis aus den „Roten Listen“ ziehen zu müssen, fiel mir als überzeugter Naturschützer zugegebenermaßen sehr schwer, auch wenn ich seit zwei Jahrzehnten immer wieder auf genau diese Folgen aufmerksam zu machen versuchte. Denn viele Maßnahmen, die vom Naturschutz in den 1960er und 1970er Jahren gefordert oder massiv unterstützt worden sind, erweisen sich für die Artenvielfalt unseres Landes abträglich.

Die vielen kleinen „Eingriffe“ in die Natur, das wissen wir längst, sind keine „Störungen“, sondern unverzichtbare Bestandteile der Dynamik, die früher Land und Wasser so vielfältig gemacht hatten. Die Überdüngung der Fluren ist der Hauptfeind der pflanzlichen Artenvielfalt, der einseitige Entzug organischer Stoffe im Zusammenhang mit der „Verbesserung“ der Wasserqualität die Ursache für den Rückgang vieler Tierarten in den Gewässern. Ausgehungert werden die Fließgewässer, denen die Auen als die natürlichen Lieferanten von organischen Stoffen zugunsten der nicht benötigten landwirtschaftlichen Produktion weggenommen worden sind.

Rekultivierung, Begrünung, Bepflanzung offener Stellen und weitestgehendes Verbot von Abgrabungen außerhalb der Großabbaugebiete fügen weitere Artenverluste hinzu – wie auch die angestrebten Änderungen in der Waldbewirtschaftung und in beängstigendem Maße der Anbau von Pflanzen zur Biospritgewinnung. Der Gründe für das Versagen der Artenschutzbestimmungen gibt es viele – die naturverbundene Bevölkerung gehört jedoch nicht zu den Verursachern. Sie aber trifft der Artenschutz. Ihr erschwert oder entzieht er den Zugang zur lebendigen Natur. Die Erfolge, die wirklichen Erfolge des Artenschutzes, die gab es bei jenen Arten, die früher stark verfolgt wurden. Wanderfalke und Seeadler, Uhu und Enzian sind die Erfolgsträger. Von Anfang an hatten sie das werden sollen.

Die Urväter des Artenschutzes lagen zu Beginn des 20. Jahrhunderts richtig; die Enkel mit den „verbesserten Bestimmungen“ ziemlich sicher nicht! Der heutige Artenschutz bedarf dringendst einer umfangreichen Entrümpelung. Im Interesse der zu schützenden Arten! Wahrscheinlich wäre es tatsächlich besser um den Artenschutz bestellt, wäre er auf die Kernarten beschränkt geblieben. Der Naturschutz sollte die Mittel und das Personal, das ihm – privat und staatlich – zur Verfügung steht, in den Flächenschutz und seine Entwicklung draußen stecken. Dorthin also, wo es sich lohnt für den Artenschutz und auch für die naturverbundene Bevölkerung.

Kurz vorgestellt: Der Zoologe und Ökologe Prof. Dr. Josef H. Reichholf lehrte 30 Jahre lang „Naturschutz“ an der Technischen Universität München und war Leiter der Abteilung Wirbeltiere an der Zoologischen Staatssammlung München. Dieser Artikel war bereits in der Zeitschrift Natur+Kosmos veröffentlicht worden. Die hier gedruckte Fassung enthält aktualisierende Änderungen.